Meine Nachbarn

  • Meine Wohnung liegt in einem netten Mehrfamilienhaus in zentraler Lage von Aachen. Alles ist gut gepflegt und auch sauber in Schuss gehalten, doch leider ist das Gebäude und vor allem das Treppenhaus recht hellhörig und in manch ruhigem Moment sinniere ich über mein Bild bei den Nachbarn. „Ein stiller, junger Mann, den man selten sieht“, würden sie nach mir befragt vermutlich sagen, „Doch manchmal kommen seltsame Geräusche aus seiner Wohnung. Schreie, Gekreische, wildes Gehämmer. Es klingt, als würde er ein Tier durch seine Wohnung jagen und, hat er es erst mal erwischt, auf bestialische Weise abschlachten.“ So würden sie sich ihre Geschichten konstruieren, doch es würden ihnen kalte Schauer den Rücken herunterlaufen, wüssten sie die düstere Wahrheit.



    Ich bestreite mal wieder eine Partie FIFA. Nach schier unendlichen Wartezeiten kommt es zum lang ersehnten Spiel. Anstoß. In Ballbesitz kombiniere ich auf das Tor zu, komme fast zum Schuss, ABER da kommt mir ein Abwehrspieler mit einer Grätsche von hinten in die Beine dazwischen, mein Stürmer fällt, der Abwehrspieler bekommt den Ball und klärt. Kein Pfiff. Ich schlucke kurz, doch scheinen mir Fehlentscheidungen zum Spiel zu gehören. Gegenzug. Der gegnerische Stürmer wird schön am Strafraum angespielt. Mein nächst positionierter Spieler geht hin, entwendet ihm den Ball, indem er ganz sauber von der Seite stochert, will den Ball nach vorne schießen, doch scheint er durch den Ball zu treten und ich stelle mir die Schmerzen des Bänderrisses vor der daraus resultieren könnte. In meinem Eifer habe ich den Pfiff wohl nicht gehört. Elfer! ABER...! Na ja, lamentieren hilft nichts. Also postiert sich mein Torsteher auf der Linie, blickt dem angetretenen Schützen tief in die Augen, erahnt die Ecke, wählt auch die richtige, doch zappelt der Ball unhaltbar im Netz.



    Oft habe ich Ähnliches erlebt und wer da sagt: „Hey Frank, das passiert andauernd. Weswegen regst Du Dich auf?“ Ok, ich kann noch anders. Nach diversen blauen Flecken an den geschundenen Schienbeinen meiner Stürmer und einer solchen Menge Gras zwischen ihren Mündern, dass sie nach ihrem Tod als Golfloch recycelt werden können, ertönt endlich der mir nahezu unbekannte Piff des Schiris und er zeigt auf den Elfmeterpunkt – bei FIFA zeigt er zwar nicht drauf, ABER es ist so ein schönes Bild. Wie dem auch sei. Mein Superstürmer und Stammelfmetervergeber legt sich den Ball zurecht, nimmt Anlauf, tritt gegen den Ball und könnte man bei FIFA neben das Tor schießen, er würde das Flutlicht zum Erlischen bringen. Der Torsteher hüpft gelangweilt in eine Ecke oder bleibt sogar stehen und – Schwups – mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck ruht der Ball sicher in seinen Armen. Ich habe eine Trefferquote unter 50 %. *grrrr* ABER von solchen Lappalien lasse ich mich doch nicht aus der Ruhe bringen, obschon ich merke, dass eine leichte Hitze in mir aufsteigt.



    Also weiter mit jungem Elan. Der Torsteher macht Abstoß, schaut und sieht zwei meiner Mittelfeldspieler am Ball vorbeispringen wie Kängurus auf der Balz, während der Gegner per Kopf elegant in Richtung meines Tors verlängert. Hier erwischt ihn mein Libero, köpft ihn ungestüm nach vorn und läuft zusammen mit der kompletten Abwehr gen Mittellinie. Dumm nur, das der Gegner den Ball erlangt, nach vorne passt und ich zusehen darf, wie sein Mittelstürmer gleich einem jungen Gott auf mein Tor zustürmt, all meine Abwehrrecken hingegen eine Auffassungsgabe von Primaten und den Wendekreis eines Hochseetankers aufweisen, denn bis sie sich zur Verfolgung aufraffen, zappelt das runde Leder selbstzufrieden in meinem Tor und lacht mich hämisch aus. Meine Mundwinkel bilden eine Bogenlampe und meine Augenbrauen akkumulieren sich in der Nähe meiner Nase, als könnten sie gemeinsam dem Desaster ein Ende bereiten. Meine Finger verkrampfen sich ums Pad, bis die Adern hervorstehen, doch sag ich mir, dass Wut noch nie jemanden weiter gebracht hat, und so spiele ich geduldig weiter.



    Mal wieder ist meine Abwehr in der Vorwärtsbewegung. Eigentlich soll sie das nicht, doch anscheinend ist mein Kasachisch ein wenig eingerostet und keiner versteht mich. Wie dem auch sei. Mein Mittelfeldstar führt sicher den Ball, lässt zwei, drei Gegner an ihm vorbeirutschen, doch als er den vierten ausspielen will, schafft dieser es mitten im Dreher-Trick mir den Ball abzuluchsen. MITTEN IM TRICK!!! Das gelingt mir nie! Ich mutmaße, er habe Metallfäden in den Ball genäht und einen Magneten am Fuß, doch kann ich mich nicht lange dieser Theorie widmen, denn der Gegenzug läuft. Der ballführende Spieler kommt über die Flanke, passt in die Mitte zurück, der zentrale Mittelfeldmann schaut und schlägt den Ball hoch nach vorne, mein letzter Mann kommt unbedrängt zum Kopfball. Was ist das? Er köpft den Ball in Richtung des eigenen Tors, doch nicht zum Torsteher zurück, sondern schön so etwa auf halbe Strecke. Mein linker Daumen verharrt fassungslos auf dem Richtungskreuz, immer noch in die entgegengesetzte Richtung gedrückt. Diesem Fauxpas nicht genug, bemerkt mein Libero beim Versuch den Ball zu holen, dass nach so einem grandiosen Kopfball die Landung äußerst kompliziert ist und so torkelt er dem pfeilschnellen Mittelstürmer erst nach, als dieser mit einem Heber über meinen Torsteher springt, sich noch dreimal um die eigene Achse dreht, seiner Freundin zuwinkt und den Treffer erzielt. Mein Kopf leuchtet hochrot. Ich sage immer wieder: “Das kann doch nicht wahr sein!“ Wild gestikulierend diskutiere ich mit dem Monitor und verfluche den tag, an dem ich zum ersten Mal ein Joypad in der Hand hielt. Noch ist nichts verloren, also nur nicht aufgeben.



    Das Phänomen ist: wenn’s nicht läuft, läuft es so richtig nicht. Der Gegner passt durch meine Spieler durch, während er mir den Ball immer wieder abnimmt, egal wie ambitioniert ich in den Zweikampf gehe. Er scheint auch immer schon vorher zu wissen, wohin mein nächster Pass gehen wird und seine Mannen kommen instinktiv in Ballbesitz, als hätten sie das gleiche Timing wie Hollywoodhelden, die immer ganz knapp vor der Detonation aus dem Auto mit der Bombe springen. Ich spiel hoch, passe flach, in den Lauf und auf Mann, versuche Alleingänge und Weitschüsse, doch keine Anstrengung ist von Erfolg gekrönt. Endlich fummelt sich mein Stürmer in den gegnerischen Strafraum, weicht den heranrutschenden Verteidigern aus, erhält eine freie Schussmöglichkeit und schießt genau auf den Torsteher, von wo er normalerweise blind mit zusammengeschnürten Schuhen trifft. Der Schlussmann grinst über beide Ohren und macht von meinem Stürmer bedrängt Abschlag. Vom Mittelfeld wird der Ball zum Strafraum zurückgeköpft, doch anstatt des Stürmers, der schneller als die zuvor aufgerückte Abwehr auf den Ball zuläuft, nimmt natürlich der Stürmer in Abseitsposition den Ball, wonach folgerichtig der Pfiff ertönt. Meine Hände zittern. Ich beiße so fest aufeinander, dass ich Zahnverlust fürchte, weswegen ich meinen aufgestauten Aggressionen durch einen Schrei zu entweichen gestatte. „Das kann doch nicht wahr sein!“



    Nicht mehr viel Spielzeit ist übrig und verloren ist gar nichts. Ich versuche es mit kontrolliertem Aufbau aus der Abwehr heraus, passe sicher hin und her, bis sein Stürmer dazwischen rutscht und die Richtung des Balls verändert. Nicht dass ich den am besten positionierten Spieler steuern könnte. So sehr ich die Wechsel-Taste auch malträtiere, bleibe ich der Spieler, den mein Pass ursprünglich erreichen sollte. Der Angreifer steht gemächlich wieder auf, klopft sich flugs seine Hose aus und nimmt sich dann den Ball. Er läuft auf mein Tor zu, meine Abwehr steht noch einigermaßen geordnet, doch werde ich kein Spieler, der vor ihm steht, sondern erhalte durch Wechseln immer nur ihm hinterherhechelnde Mittelfeldspieler, mit denen ich natürlich wahnsinnig gut ins Spielgeschehen eingreifen kann. Der Angreifer wuselt sich durch meine Abwehr in den Strafraum, setzt zum Schuss an, zieht ab, doch kann mein Torsteher mit einer Weltklasseleistung parieren, Der Ball hüpft munter im Fünfmeterraum rum, wo mein Abwehrspieler ihn erreicht und seine letzten Kräfte zum finalen Rettungsschlag mobilisiert. Der Schiri nimmt bereits die Pfeife in den Mund und schaut auf die Uhr, so dass ihm beinahe das Unfassbare entgangen wäre. Mein Verteidiger holt weit aus, trifft den Ball optimal mit all seinem Schwung und haut ihn mit voller Wucht...



    ...gegen eine anderen Verteidiger, der ebenfalls in Richtung Ball gelaufen war um ihn nach vorne zu dreschen. Die Kugel trifft ihn genau an der Schläfe. Ihm wird schwarz vor Augen und bewusstlos stürzt er zu Boden. So entgeht ihm auch der wunderschöne Bogen, in dem der Ball von ihm abgeprallt über den Schützen hinweg genau ins obere Eck des Tores beschreibt. Ein Eigentor der Extraklasse. Jetzt brechen bei mir alle Dämme. Ich schreie, schimpfe, heule fast vor Wut und schlage mit dem Joypad auf meine Tastatur. Das war ein Fehler, denn die „m“- und die „,“-Taste zerspringen mit einem lauten Knacken, während die SPACE-Taste aus ihrer Verankerung gerissen wird. Wo vorher graue Plastiktasten zum Tippen einluden, stehen nun weiße Pinne bereit, jeden Tastendruck mit einem leichten Schmerz in der Fingerkuppel zu quittieren. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viele „m“s in einem Text vorkommen; von „;“ und Leerzeichen ganz zu schweigen. Laut der Lehre der Akupunktur befinden sich auf unseren Fingern jede Menge Reflexzonen und tatsächlich stelle ich fest, dass mir beim Tippen dieses Textes immer mehr Lunge und Leber schmerzen. Diese Punkte scheinen wohl stimuliert zu werden, wenn ich unter Verrenkungen „m“s, „,“ und Leerzeichen auf den Monitor bringe.



    Meine Nachbarn würden mich als ruhigen, stillen Mann bezeichnen und jeder, der mich noch nie FIFA spielen sah, würde dieser Charakterisierung zustimmen, doch sprechen drei fehlende Tasten ihre eigene Sprache. Beim nächsten Spiel werde ich ruhiger – bestimmt!